Die gleiche sommerliche Sportstunde im Jahr 1993 mit den Jungen einer neunten Hauptschulklasse wäre drei Jahre zuvor noch in einem Tumult geendet. Es hätte zumindest allerheftigste Beleidigungen gegeben. Man hätte einen, auf dem man seinen eigenen Frust abladen könnte.
Ja, genau, es geht um die angeblich traurigen Reste eines Jahrganges. Es geht um die Schüler, die sich nach den zwei Jahren der Orientierungsstufe in der kleinsten, untersten Schublade als Spätentwickler, Plüschohren, Versager oder hoffnungslose Fälle wieder fanden. Die in der Hauptschule zuerst meinten, dass an ihrer sozialen Leiter die meisten Sprossen fehlten. Die sich häufig total abschotteten und in den kurzen Wachphasen das Faustrecht praktizierten.
Als Lehrer, tatsächlich jedoch vorwiegend als Sozialarbeiter, hatte man also drei Jahre Zeit, aus einem Haufen mehr oder weniger demotivierter, lethargischer oder auch agressiver Schüler so etwas wie eine lernbereite Gemeinschaft zu bilden. Dabei musste man ständig damit rechnen, dass die so genannten Rückläufer aus Realschule und Gymnasium dafür sorgten, jederzeit wieder von vorn anfangen zu dürfen.
In einem geduldigen, einfühlsamen und verständnisvollen Kollegium schafften es die Pädagogen dennoch, ihre Schüler aufzubauen, ihre Lernbereitschaft neu zu wecken und ihnen ein vernünftiges Maß an sozialen Kompetenzen mitzugeben. Dabei spielte der Sport sicherlich keine unwesentliche Rolle.
Für die letzten 15 Minuten dieser Sportstunde – eine der letzten des neunten Schuljahres – einigte man sich auf ein Fußballspiel.
Es wurde inzwischen akzeptiert, dass auch mal die schwächsten Spieler wählen durften. So wie jetzt allen klar war, dass hier, anders als im Vereinssport, der individuelle Fortschritt, die sportliche Einstellung und das Sozialverhalten weit vor der absoluten Bestleistung die Beurteilung bestimmten, die Noten sogar gleichberechtigt in der Gruppe besprochen, diskutiert wurden! Nicht selten ging ein supertalentierter Vertreter der Ellenbogenfraktion neben einem zumeist willigen und bemühten Unsportler mit der gleichen Sportzensur nach Hause.
Heute hatte Clemens gewählt, ohne dass seine Auswahl kritisiert wurde! Alle Achtung!Denn Clemens war unsportlich, ungelenk, tollpatschig und ohne Brille stark kurzsichtig.Eigentlich war er der gelebte Albtraum jedes ehrgeizigen Teams.
Aber Clemens spielte mit. Jedenfalls versuchte er es, denn natürlich wusste auch er, dass es beim Fußballspiel letztlich um Tore geht. Deshalb trottete er in das Getümmel vor dem Tor. Bislang hatte er den Ball noch nie im Spiel getroffen. Aber heute war offenbar sein Tag! Der Ball kam direkt auf ihn zu.
Er holte aus und … traf den Ball und … der Ball landete im Tor!
Eine explosionsartige Freude, ein sich überschlagendes Jubelgeheul brach aus ihm heraus. Kopf, Arme und Beine zuckten in alle Richtungen, er hatte seinen Jackpot geknackt! Sekunden später verschwand er in der Traube seiner ihn beglückwünschenden Klassenkameraden. Ausnahmslos aller Klassenkameraden, also beider Mannschaften!
Ich bin sicher, dass dieser Moment die beste Erinnerung an seinen Schulsport ist.
Ja, so war das mit dem ersten und einzigen Tor, welches Clemens je in seiner Schulzeit schoss, einem blitzsauberen Eigentor.