Liebe Leserinnen und Leser in China,
vor vielen Jahren faszinierte mein Großvater als ehemaliger Berufstaucher seine große Enkelschar bei Familienfeiern immer wieder mit seinen spannenden Berichten aus seinem Berufsleben und den weltweiten Taucheinsätzen, wobei wir Kinder kaum in der Lage waren, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Da Opa seine Erzählungen meist mit Hilfe seines Globus verdeutlichte, war es uns Kindern immer möglich, seine Reisen in unseren Träumen noch einmal an den Originalschauplätzen mitzuerleben. Besonders die Tigerjagd nahe Hai Phong, der vietnamesischen Hafenstadt, hatte es uns angetan – Jahr für Jahr wurde die Story daher auch etwas dramatischer – also Spannung pur, besser als jedes TV-Programm. Aber nachgewiesene Tatsache ist, er war dort 1922 wirklich für die französische Kolonialverwaltung mehrere Monate als Taucher im Einsatz. Nebenher erfuhren wir von Opa auch noch, dass es “dort in der Nähe, nämlich in Peking” die verbotene Stadt gab, die von einer derart großen Mauer umgeben war, dass man sie sogar vom Mond aus erkennen konnte. So waren meine kindlichen Kenntnisse immerhin durch einen echten Experten geprägt. Dafür habe ich meinen Opa unzählige Male beneidet – wie gern hätte ich derartige Weltwunder auch einmal mit eigenen Augen gesehen. Das Fernweh wurde uns jedenfalls auf diese Art sehr erfolgreich eingeimpft.
Später, als ich mir mit 22 Jahren einen ersten gebrauchten Fernseher leisten konnte, war ich faszinierter Zuschauer möglichst vieler Reportagen aus aller Welt. Über China wurde nur sehr selten berichtet und daher blieben in meinem Kopf vor allem die Bilder riesiger Menschenmengen hängen, die alle – Frauen und Männer, Junge und Alte – die gleichen Uniformen trugen. Zu gern hätte ich die Gelegenheit gehabt, mir ein persönliches Bild zu machen, denn ich begriff langsam, dass TV-Berichte auch bestens zur Meinungsmanipulation geeignet waren und als Querdenker war es sicherlich nicht verkehrt, wenn möglich hinter die Kulissen zu schauen. Aber es war nur Wunschdenken, China war für mich sehr, sehr weit weg.
Doch es gibt eben doch noch Wunder. Inzwischen hatte ich vor allem durch meinen Sport nicht nur viele Länder Europas gesehen, sondern erhielt Dank der von mir entwickelten Aquapädagogik bereits mehrmals Einladungen als Sprecher bei großen Kongressen in den USA und in Boenos Aires – in wenigen Wochen sollte ich sogar in Australien und Neu Seeland mein Konzept vorstellen. Das war im Spätsommer 2013 und mich überraschte die Anfrage einer chinesischen Scoutingagentur, die zuvor in sämtlichen führenden Schwimmnationen weltweit nach der optimalen Schwimmlehrmethode suchte. Die Skouts erklärten mir, dass sie sich in Sachen Pädagogik immer zuletzt in Deutschland informieren, weil man in China generell eine sehr hohe Meinung vom deutschen Bildungssystem hat. Nun hatte man sich bereits in den führenden Sportuniversitäten in Köln und Leipzig umgesehen, die Konzepte der Sport- und Rettungsschwimmer studiert und war am Ende via Internet auf die Aquapädagogik gestoßen und … war davon sofort überzeugt. Was ihnen fehlte, war nur noch der Beweis, dass zwischen Theorie im Internet und Praxis im Schwimmbad die erhoffte Übereinstimmung zu erkennen war – sie wollten sich life vom Geschehen überzeugen.
Am nächsten Tag waren die beiden Skouts mit einem Dolmetscher in unserem Bad und schon nach 15 Minuten erklärte mir der Dolmetscher, warum der eine Skout mit dem Telefon am Ohr vor die Tür ging. “Wir haben bei Ihnen das richtige gefunden. Das wird den Auftraggebern jetzt mitgeteilt und die werden sich sehr schnell bei Ihnen melden”, hieß es. Und richtig, schon zwei Tage später kam die Mail der chinesischen Schwimmschulorganisation mit der Frage, ob ich kurzfristig ca. 25 Schwimmlehrer nach meinem Konzept ausbilden könne, entweder in Hamburg oder in Peking.
Selbstverständlich konnte ich das und machte den Vorschlag, zu diesem Zweck meine noch nicht gebuchte Rückreise von Neu Seeland für eine weitere Woche in Peking zu unterbrechen, um dort das gewünschte Seminar in China durchzuführen. So kam ich zu meiner ersten vierwöchigen Weltreise, kam überladen mit tausenden unvergesslichen Eindrücken nach Hamburg zurück. Adelaide und Sydney in Australien sind bereits ein Riesenerlebnis, obwohl vieles noch recht westlich-europäisch anmutet. Aber welch ein Zufall: Die australische Marine feierte Jubiläum und im Hafen waren diverse Kriegsschiffe aus verschiedenen Ländern zu besichtigen. So kam es, dass ich bereits hier chinesisches Terrain betrat, eine hochmoderne Fregatte der chinesischen Marine – ganz sicher keine chinesische Dschunke, von denen mir früher unser Opa so oft erzählte.
Danach der Kongress in Queenstouwn, dem Touristenzentrum auf der Südinsel und die folgende zweiwöchige Bustour, zum großen Teil über vereinsamte Straßen durch beeindruckende, menschenleere, stille Natur bis hin zur Metropole Auckland. Dort versteht man es sofort, warum es dorthin nicht nur Neu-Seeländer zieht, sondern ebenso betuchte Bürger aus aller Welt.
Dann das Kontrastprogramm Peking: der utopisch große Airport, die unzähligen Menschen, die überfüllten Straßen, die vielen Wolkenkratzer, die unsere Hochhäuser zu Minihütten degradieren. Dazu die Erkenntnis, dass man die Welt bislang völlig falsch einschätzte: Nicht wir Deutschen, wir Europäer sind in der Entwicklung vorweg, sind die modernen Vorreiter, nein es ist ganz sicher das aktuelle China, was Maßstäbe an Entschlossenheit, an schnellem Umsetzen von Ideen und Innovationen setzt, wo die Menschen ohne Ende wissbegierig, ehrgeizig und ausdauernd sind. Und diese Menschen sind nahezu alle ausgesprochen höflich, freundlich, vertrauensvoll und auf eine wirklich angenehme Art dankbar, wenn man sich bemüht, mit ihnen das eigene Wissen zu teilen. Nebenher durfte ich mir meine Kindheitsträume erfüllen, durfte die “verbotene Stadt” besuchen und mehrere Kilometer auf der “großen Mauer” wandern und zusätzlich diverse touristische Nationalheiligtümer besuchen, immer begleitet von begnadeten Dolmetschern und fürsorglichen Mitgliedern der Loongkids-Schwimmschulen.
Im Verlauf von nunmehr zehn Chinareisen, die mich bisher in über 20 Megastädte führten, konnte ich rund 400 junge Schwimmlehrer nach meinem Konzept ausbilden. Ferner wurde die erste chinesische Auflage meines Aquapädagogikbuches als angeblich erstes Fachbuch überhaupt zu diesem Bereich veröffentlicht und im Herbst 2015 im Kongresszentrum des Pekinger Olympiaparks das “Chinesisch-europäische-Aquapädagogik-Research-Center” (CEAPRC) gegründet, welches bereits drei nationale Kongresse mit weltweit bekannten Referenten veranstaltet hat. Doch nebenher ist mir auch klar geworden, dass ich dennoch erst einen Blick durch das Schlüsselloch in das chinesische Riesenreich werfen durfte. Aber diese sehr begrenzten Kenntnisse erlauben es mir dennoch, nach bald fünfjähriger Chinaerfahrung ein erstes Fazit zu ziehen:
Zunächst ist es keineswegs so, dass nur ich mein Wissen über den Schwimmunterricht weitergegeben habe. Das ist sicherlich nach wie vor der Schwerpunkt unserer Kooperation und ich meine, dass diese Fahrtrichtung noch eine Weile die vorwiegende bleiben wird. Dazu sagt mir meine lange Erfahrung, dass das, was ich in über 20 Jahren gelernt habe, auch der talentierteste Pädagoge in China nicht von heut auf morgen in allen Einzelheiten praktizieren kann. Aber dennoch sind die Loongkids-Lehrer inzwischen auf einem sehr, sehr guten Weg. Sie sind bereits heute die chinesischen Experten für das Baby- und Anfangsschwimmen.
Und ich gebe gerne zu, dass auch ich in fachlicher Hinsicht in China einiges dazu gelernt habe, was mir neue Erkenntnisse bescherte und mich befähigte, in manchen Bereichen spezieller und damit erfolgreicher agieren zu können – was auch hier in Europa in meine Seminare Einzug hält.
Obwohl ich seit vielen Jahren das Glück hatte, deutlich mehr als üblich von der Welt sehen zu können und vor allem auch überall persönliche Kontakte zu den Einheimischen herstellen konnte, wird alles von meinen Eindrücken in China übertroffen. So sehe ich in meinem Engagement in China ein großes Glück, eine ebenso große Ehre und eine sehr, sehr dankbare Aufgabe, der ich gern noch recht lange nachkommen möchte. China ist für mich inzwischen zum größten Abenteuer meines Lebens geworden. Deshalb stellvertretend ein herzliches Dankeschön an Lynne, Serena, Elen, May, Eason und Kevin von Loogkids sowie “meinen chinesischen Stimmen”, allen voran Sina, Emily und Wenbo und an all die unzähligen freundlichen Personen, die mir bislang in China begegnet sind – die mich in ihrer riesengroßen Schwimmfamilie so überaus herzlich aufgenommen haben.
Uwe Legahn, Hamburg, im August 2018